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Negatives Stimmengewicht (Piratenpartei Sachsen-Anhalt Blog)

Letztes Wochenende habe ich in dem Blog der Piratenpartei Sachsen-Anhalt etwas zum Negativen Stimmengewicht geschrieben:

Der Untergang der Demokratie: das negative Stimmengewicht

In wenigen Tagen ist es so weit. Dann hat die Politik bewiesen wie unwichtig doch die Demokratie ist, wie unwichtig der Wählerwillen ist. Anders kann man diese Situation nicht erklären. Die Politik hatte vor drei Jahren von dem Bundesverfassungsgericht den Auftrag bekommen, das derzeitige Wahlrecht zu verbessern, da es nach ihrer Ansicht verfassungswidrig ist. [1] Nur die Bundestagsfraktion der Grünen hatte im Februar dieses Jahres den Versuch gewagt, einen Gesetzesentwurf zur Behebung der Lücke einzureichen [2], welcher aber von den Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD (mit ein paar Ausnahmen) abgelehnt wurde. [3] Nach Wahlrechtsexperten lag der Gesetzesentwurf “nur knapp über dem theoretisch erforderlichen Mindesteingriff”. [4]

Aber nun der Reihe nach:

Gleich zwei Personen klagten 2007 vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das derzeitige Wahlgesetz aufgrund der Möglichkeit eines negativen Stimmengewichts. Negatives Stimmengewicht bedeutet, dass durch mehr Parteistimmen weniger Sitze oder bei weniger Parteistimmen mehr Sitze errungen werden.

Ein sehr interessantes Beispiel war die Bundestagswahl 2005. Durch den plötzlichen Tod der NPD Kandidatin Kerstin Lorenz kurz vor der Bundestagswahl gab es in ihrem Wahlkreis Dresden I eine Nachwahl. Aufgrund des knappen Ausgangs in den anderen Wahlkreisen hing die Anzahl der Überhangmandate der CDU von diesem Wahlkreis ab. Nach vorheriger Berechnung konnte man vorhersagen, dass die CDU nicht mehr als 41.226 Zweitstimmen erhalten durfte, weil sie sonst ein Überhangmandat verloren hätte (Sachsen hätte ein Mandat von Nordrhein-Westfalen erhalten). Die CDU warb somit vor der Nachwahl, dass man ihr keine Zweitstimmen geben sollte, was sie auch erfolgreich schaffte und unter der Zweitstimmengrenze blieb.

Weitere Beispiele zum negativen Stimmengewicht findet man in der Wikipedia. [5]

Das Bundesverfassungsgericht erkannte diese Lücke und erklärte am 3. Juli 2008, dass bestimmte Punkte im Wahlgesetz gegen das Grundgesetz verstoße und gab dem Gesetzgeber den Auftrag “spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.” [1] Daraufhin geschah zweieinhalb Jahre nichts, worauf sich die Grünen veranlasst fühlten einen Gesetzesentwurf einzureichen. Dieser Entwurf schlug unter anderem vor, die “Überhangmandate einer Partei mit den Listenmandaten, die diese Partei in anderen Bundesländern erringen konnte” verrechnen zu lassen. [6] Außerdem sollen aufgrund von nicht genügend bundesweiten Listenmandaten übrig bleibende Direktmandate unbesetzt bleiben.

Dieser Gesetzesentwurf hätte das negative Stimmengewicht völlig beseitigt. Außerdem hätte es keine bundesweiten Überhangmandate mehr gegeben. Wie man hier schnell erkennen kann, benachteiligt dies die sogenannten “Volksparteien” CDU und SPD, weshalb auch die Ablehnung dieses Entwurfs nicht überraschend ist.

Doch da dieser offensichtliche Grund aber nicht der Grund der offiziellen Ablehnung sein kann, brachte man schon in der Anhörung komische Gründe gegen die Änderung hervor:

Zum einen empfand man, dass eine zügige Änderung nicht angemessen sei. Zum anderen empfand man, dass das negative Stimmengewicht nicht verfassungswidrig bzw. vor der Wahl auch sehr schlecht vorhersagbar ist und die Wahl somit schlecht manipuliert werden kann. Das Gegenteil des letzten Punktes wurde aber schon 2005 bewiesen. Die zeitliche Knappheit kann man auch nicht gelten lassen, da schon mehr als zwei Jahre Zeit war und man bei anderen Gesetze schon bewiesen hat, dass es schnell geht, wenn es sein muss. Wie es scheint, haben die Parteien den Stellenwert eines Urteils des Verfassungsgerichts nicht erkannt.

Weitere solcher “Nebelkerzen” kann man auf wahlrecht.de nachlesen. [7]

Wie man schon an den Aussagen der Politiker erahnen konnte, wurde im Innenausschuss mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP die Ablehnung des Gesetzesentwurfs empfohlen und in der dritten Beratung völlig abgelehnt.

Wie vor zwei Monaten berichtet wurde, haben die Union und FDP nun doch an einen Entwurf gearbeitet, der vorschlägt, die Zuteilungsregel so umzudrehen, dass künftig zuerst die Sitze an die Bundesländer und danach an die dortigen Parteien verteilt werden. Laut wahlrecht.de beseitigt dies das verfassungswidrige negative Stimmengewicht nicht und die umstrittenen Überhangmandate bleiben ebenfalls weiter erhalten. [8]

Und nun?

Nun kann man es fast offiziell sagen: Die Parteien haben es nicht geschafft den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen. Dies bedeutet, dass wir ein verfassungswidriges Wahlgesetz haben und mit diesen wohl auch 2013 wählen werden. Dies ist eine sehr beunruhigende Situation, denn man muss das Gefühl haben, dass das Grundgesetz nicht mehr den Wert hat, den es haben müsste. Dies zeigte die Politik aber auch schon vorher, indem sie unter anderem die Vorratsdatenspeicherung einführte, welche in dieser Form als verfassungswidrig erklärt wurde.

Selbst der von den Piraten hochgeschätzte Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier warnte vor einer Staatskrise. [9] Auch die derzeitigen Verfassungsrichter kritisieren die Regierungskoalition. [10]

Eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht (dies ist ein möglicher Weg laut Papier) seitens der Piratenpartei wird nach meinen Informationen wegen den zu hohen Kosten und der zu geringen Wirkung leider nicht angegangen.

Jetzt können wir nur noch abwarten oder unseren Unmut öffentlich bekunden.

Quellen / weiterführende Links:

Links zuletzt abgerufen am 19. Juni 2011